Titelbeschreibung: E-Book

44 | Osang, Alexander: Fast hell

Osang, Alexander

Fast hell

Aufbau

 

Den kenne ich von seinen Artikeln im SPIEGEL. Reportagen über die USA, Israel, die neuen Bundesländer. Meistens gefällt mir gut, was und wie er schreibt. - Jetzt also ein Leseexemplar aus Manfreds Kiste. Fast hell. Keine Genrebezeichnung auf dem Schutzumschlag. Verdächtig! Unentschlossenes Zeug mag ich nicht. Aber aufhören mit Lesen kann ich ja jederzeit. - Doch schon nach ein paar Seiten weiß ich (egal ob mit oder ohne Genrebezeichnung): Diesen Text muss ich bis zum Schluss lesen.

Osang hadert ein bisschen mit sich selbst. Mal nennt er Fast hell einen Lebensroman, dann wieder Reportage, am Ende sogar „eine Erzählung [...], eine absurde, aber wahre Novelle.“
(S. 237)

Von welchen unerhörten Begebenheiten und Personen erzählt er? Von Alexander Osang und seinem Freund Uwe. Vom Erwachsenwerden in der DDR. Von (wenigen) Siegen und (vielen) Niederlagen. Von der Stasi und den Westverwandten. Von denen, die blieben und von denen, die rübermachten in den Westen. Von den Frauen. Von den Kindern. Vom Schwulsein und vom Katholizismus. Von unglaublich vielen und oft sehr weiten Reisen. Vom Beruf und von der Berufung. Und natürlich von der Zeit als Auslandsreporter beim SPIEGEL. Und von einer Schiffstour zusammen mit Uwe, dessen Mutter und Rita (die vielleicht eine Spionin ist oder war). Von Helsinki nach Sankt Petersburg, mit der Möglichkeit, ohne Visum die wunderschöne russische Stadt kennen zu lernen. Die Schiffstour bildet die Rahmenhandlung.

Auf dieser Reise durch fast helle Nächte wird Osang nicht nur krank (viel später wird ein heftiges Erschöpfungssyndrom diagnostiziert werden), sondern auch immer weniger klug in Sachen alter Gewissheiten, von denen er bis dahin geglaubt hatte, sie seien unumstößliche Wahrheiten.

Er wird Unmengen Alkohol trinken. Uwe genauso. Und während sie trinken, erzählen sie sich ihre so unterschiedlich verlaufenen Leben. Das ist spannend wie ein großer Gesellschaftsroman, verstörend wie eine geheime Krankengeschichte, erhellend wie eine furiose SPIEGEL-Reportage.

Die Rätsel der individuellen Existenz des Einzelnen werden exemplarisch entschlüsselt. Ohne erhobenen Zeigefinger, ohne universellen Geltungsanspruch, ohne Verurteilung, ohne jedwede Besserwisserei. Assoziativ und traumwandlerisch sicher formuliert fügt Osang die verschiedenen Lebensläufe aller Figuren zusammen zu einer großen Erzählung über Weg und Irrwege unterschiedlichster Menschen. Die Freundschaftsgeschichte (Osang und Uwe) wird letztlich zum radikal subjektiven Essay einer Selbstfindung.

„Es war ein Moment der Ruhe, des Stillstands. Zwei Ostberliner Jungs, aufgehalten in ihrer lebenslangen Flucht, eingeschlossen in der Zeit wie Bernstein. Die Hälfte der Zeit waren wir unterwegs, aber wir wussten nicht, wo. Es gab kein Zurück mehr, es gab nur unsere Erinnerungen. [...] Alles ist genauso passiert, soweit ich mich erinnere.“ (S. 237)

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©Peter Cremer, Januar 2022

44 | Osang, Alexander: Fast hell. 2022, Aufbau, 978-3-351-03858-8 [ISBN]


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