Titelbeschreibung: E-Book

36 Barry: Tausend Monde

Sebastian Barry

Tausend Monde

(übers. von Hans-Christian Oeser)

Steidl

Im Jahr 2020 eine Geschichte lesen, die 1878 in Tennessee spielt, kurz nach Ende des blutigen Sezessionskrieges? Einen Western über ‚Identität und Rache‘ (U 4), dessen Personal mir schon aus Barrys ‚Tage ohne Ende‘ bekannt ist? Thomas McNulty und sein Geliebter (John Cole), das Indianermädchen Winona, eine Lakota, deren Stamm in den Wirren des Krieges vernichtet wurde, unter tatkräftiger Beteiligung von Thomas und John? Winonas indianischer Name ist Ojinjintka. Doch die amerikanischen Ureinwohner sind nahezu ausgerottet und mit ihnen ihre Namen.

Winona erzählt die Geschichte, die die ihres Lebens ist, dessen Spanne nicht in Jahren gemessen wird, sondern in Monden. Tausend Monde währt ihre Welt-Reise schon.

Der ‚befreite‘ Sklave Tennyson ist zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt worden. Cole und McNulty planen einen Rachefeldzug. Wir „satteln die Maultiere und töten die Männer, wer immer es getan hat … Wir brauchen keine Abzeichen und keine Gesetzeshüter. Wir tun unsere Arbeit selbst.“ (S. 64) Sheriff Flynn entgegnet: „Ihr seid hier nicht im Westen … das hier ist die neue Welt der Farmen, der eingelegten Birnen und des Friedens.“ (S. 64) „Sehen Sie“, sagte John Cole, „genau das machen wir nich` mit. Denn um
`ne Indianerin – oder `nen Schwarzen – scheren die Leute sich`n Dreck.“ (S. 64)

Nicht nur Tennyson wurde Gewalt angetan, sondern auch Winona, die augenscheinlich vergewaltigt und schwer misshandelt wurde, sich aber nicht mehr an Täter oder Tathergang erinnern kann. Aber das interessiert von den Hütern des Gesetzes offensichtlich niemanden ernsthaft. Hilfssheriff Parkmann sagt es deutlich: “Dies Mädchen ist ein Nichts … diese Leute sind Abschaum.“ (S. 64)

Schlagartig wird mir bewusst: Barry schreibt über Rassismus, über Diskriminierung, über Frauenrechte, über die Ausgrenzung von Minderheiten, über die Macht der Mächtigen und über die Ohnmacht derer, die ohne Macht sind und darüber, dass, wer das Geld hat, eben auch die Macht hat. Black Lives Matter, MeToo, Homophobie, Fake News, Rechtsbeugung - Barrys Roman ist eine Parabel, die, als Western ‚verkleidet‘, unsere Gegenwart enttarnt als das, was sie derzeit ist: ein schlimmer Ort zum Leben für alle, die nicht über Reichtum, Wissen und Bildung (oder alles gleichzeitig) verfügen.

Nach und nach werden alle schrecklichen Geschehnisse aufgeklärt, die das Henry County, Tennessee, zu einer Art von Menschen gemachten Hölle, einem ganz und gar lebensfeindlichen Ort machen, in dem weder Recht und Gesetz noch Liebe und Wärme Trost spenden können. - In dieser ‚finsteren Dunkelheit, wo tödlich scharfe Winde über die Prärie wehen und vom Himmel unfreundliche Monde herabstarren.‘ (S. 218) So beschreibt Winona die Welt, in der sie leben und möglicherweise am Galgen sterben muss, versucht man doch, ihr den Mord an Jas Jaski anzuhängen, der möglicherweise ihr Vergewaltiger ist, gleichzeitig aber auch der Mann, der sie heiraten möchte. - Das Chickasaw-Mädchen Peg und der Anwalt Briscoe, Thomas McNulty und John Cole, beide Männer so etwas wie Winonas ‚Eltern‘, versuchen die des Mordes Angeklagte zu retten. Ein schwieriges Unterfangen. Denn schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776 heißt es: „Schädlinge sind sie, unbarmherzige wilde Indianer.“ (S. 242)  Und (Indianer-)Kriege wurden geführt, damit „Schädlinge aus der Welt geschafft werden können wie Ratten“. (S. 242)

Barry erzählt in seinem unnachahmlichen poetisch realistischen Stil eine mitunter über die Maßen des Erträglichen hinausgehende grausame Geschichte. Blut, Verstümmelung, Zerstörung und Tod bilden das Fundament der Geschichte. Aber auch Hoffnung leuchtet bisweilen auf. „In jeder Geschichte … gibt es einen guten Menschen.“ (S. 242)

Ali Smith hat es auf den Punkt gebracht: „Niemand schreibt so wie Sebastian Barry, […] niemand verschiebt so die Grenzen der Sprache und des Herzens und beider zusammen, so dass man aus der Lektüre zurückkehrt, als wäre man weit fort gewesen, in einer anderen Klimazone.“ (U 4)

 

ISBN 978-3-95829-775-3

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© Peter Cremer / Oktober 2020

36 Barry: Tausend Monde. 2021, 978-3-95829-775-3 [ISBN]


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