Titelbeschreibung: E-Book

35 G. Caminito: Ein Tag wird kommen

Giulia Caminito

Ein Tag wird kommen

Wagenbach

Was für ein großartiger Roman!

Italien am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Monarchie befindet sich im Niedergang. Malatestas Anarchisten destabilisieren die tradierte Ordnung. Der 1. Weltkrieg fordert zahllose Opfer. Die Spanische Grippe wütet. Der Same für die folgenden Katastrophen, Weltwirtschaftskrise und Faschismus, wird schon bald in seiner schrecklichsten Form aufgehen. – In diese historische Gemengelage platziert Caminito eine italienische Familiengeschichte, deren archaische Wucht ihresgleichen sucht. Verga, Fenoglio, der frühe Calvino und Carlo Levi kommen mir da in den Sinn.

Ein Dorf in den Marken (Serra de‘ Conti) ist Schauplatz der Handlung. Armut und Unterdrückung prägen das Leben der Dorfbewohner. Gewalt und Not tun ein Übriges.

Die Kinder des Bäckers Luigi sterben, kaum dass sie geboren sind, oder sie kränkeln in leidvollem Siechtum bis zu ihrem frühen Tod. Der einzige ‚starke‘ Sohn (Antonio), der Hoffnungsträger der Familie, wird versehentlich erschossen. Man hatte ihn für einen Apfeldieb gehalten. Nella, die ein düsteres Geheimnis umgibt, hat sich im nahegelegenen Kloster durch Flucht der Welt entzogen. Die Mutter Violante erblindet und ist zu nichts mehr zu gebrauchen. – In dieser Familie wachsen die Brüder Lupo und Nicola, genannt Nini, heran. Stark, mit Hang zur Brutalität, politisch den Anarchisten nahestehend der eine; zart, hellhäutig, immer ein wenig kränkelnd und als einziges Familienmitglied intensive Bildung genießend der andere. Nini wird Lupo das Lesen beibringen, Lupo wird zum Beschützer Ninis. Das Wolfsjunge Cane, das Lupo anstelle eines Hundes im Haus hält, wird beider zugleich wilder und zahmer Gefährte.

Beschaulich ist gar nichts im Leben der Familie Ceresa. Die Ereignisse überschlagen sich. Nini wird trotz seiner offensichtlichen Untauglichkeit zum Kriegsdienst verpflichtet. Er und Lupo verlieren einander. Im Kloster wird Nella die Schrecknisse des Weltenlaufs auf so gar nicht christliche Art erleben. Lupo wird fürchterlich wüten in seinem Elternhaus.

Dabei ist nichts von dem, was erzählt wird, tatsächlich so, wie es zunächst beschrieben wird. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto klarer werden jedoch alle Zusammenhänge, die die Ursache sind für alle Verwerfungen, Verbrechen und Familiengeheimnisse. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Schuld, Missbrauch, Verlorensein und Tod, das sind die Gegenstände der Erzählung.

Caminito beschreibt tatsächlich die Hölle auf Erden. In starken, oft melancholischen, immer der Realität abgeschauten Bildern. Und dies tut sie mit einer solchen Intensität und Zärtlichkeit, dass man zunehmend staunend weiter und weiter liest.

Sie erschafft dabei etwas, das sie selbst im Nachwort des Romans „Räume der aufgehobenen Zeit“ (S. 264) nennt. Wirkliches und Erfundenes, Realität und Fiktion verschwimmen in ein untrennbares Ganzes. So sind die Figuren des Romans entstanden als „so weit voneinander entfernte Figuren, dass sie schon wieder nah sind, vollendete Gegensätze … verlorengegangene Welten, denen man nachtrauern kann.“ (S. 264) Und deshalb gibt es in diesem Roman „nicht nur einige Wahrheiten, sondern auch viele Lügen.“ (S. 264)

Von sich selbst sagt Caminito: „… im Grunde bin ich Nicola Ceresa, derjenige, der Angst hat und im Kopf nicht ganz richtig ist, dem die Hände zittern und der auf Lupos schaukelnden Nacken blickt, während er die Dorfstraße hinuntergeht.“ (S. 265)

Ein Tag wird kommen – was für ein großartiger Roman!

35 G. Caminito: Ein Tag wird kommen. 2021, 978-3-8031-3325-0 [ISBN]


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