Titelbeschreibung: E-Book

33 P. Probst: Wie ich den Sex erfand

Peter Probst

Wie ich den Sex erfand

Kunstmann

Peter Probst erzählt von Peter Gillitzer. Ein Coming-of-age-Roman. Und was für einer! Der geht so:

Hettie, die weiß Bescheid und Uschi vermutlich auch, wobei es nichts zur Sache tut, dass die in Wirklichkeit Mathilde heißt und einen Bruder hat, der Schläge nicht nur androht, sondern auch ausführt, von der Mutter ganz zu schweigen, deren Morgenmantel möglicherweise das einzige Kleidungsstück ist, das sie trägt und der an Stellen Haare wachsen, von denen Peter absolut keine Ahnung hat. – Wenn es eng wird in Bezug auf Wissen jeder Art, dann müssen die Muttergottes und Franz Josef Strauß helfen, verlässliche Tippgeber in allen kritischen Lebenslagen (jedenfalls meistens). Und eng wird es ziemlich häufig in Peters Leben, im Münchener Vorstadtreihenhaus des Ärzteehepaars Gillitzer, in dem außerdem noch zwei jüngere Brüder (Berti und Sigi), ein Hund und die Hausangestellte Hertha zu Hause sind. Auch der blaue VW 911 spielt eine nicht unwichtige Rolle. Ein ehrliches deutsches Auto. Aber das nur am Rande.

Die Leiden der Pubertät, die katholische Strenge, das christlich-soziale Lebensgefühl, das sind die Koordinaten im erzkonservativen Gillitzer-Haushalt, die Peters Lebensweg bestimmen, der von Schlafmangel, Migräneattacken, dunkelsten Augenringen, komischen Träumen (in denen sogar Heiligenbildchen und Franz-Josef-Strauß-Poster sprechen) und Sanostol-Kuren bestimmt ist. Nichts als Flausen hat er im Kopf, der Peter. Ob man ihn nicht doch am besten ins Internat schicken sollte, nach St. Ottilien, wo schon der vor Jahren verstorbene Mann der Gymnastik-Oma (mütterlicherseits), der Hammerl Josef, seinerzeit fast sein Abitur geschafft hätte. – Das hat er jedoch nicht ablegen können, weil er das Internat im letzten Schuljahr vorzeitig hatte verlassen müssen. Wegen einer Sache, die mit ‚Unzucht‘ beschrieben worden war. Schon wieder so ein Wort, das Peter in seinem Notizbuch aufschreibt und dessen Bedeutung er schleunigst in Erfahrung bringen muss, wenn er mitreden möchte bei den Gesprächen seiner Mitschüler. Da hat er außerdem solche Wörter wie Hingabe, unbefleckt, Empfängnis, Beischlaf und Prono notiert. Wörter, die lauter Geheimnisse bergen, die aufgedeckt werden müssen. Doch auch die Recherche im vielbändigen Brockhaus, den Peter verbotenerweise im Arbeitszimmer des Vaters (das kein Familienmitglied allein betreten darf) konsultiert, hilft kaum weiter, da alle Wörter, die er nachschlägt, immer mit einer Vielzahl von Begriffen erklärt werden, die er neuerlich nicht versteht. Mist! Statt verständlicher Erklärungen liefert der Brockhaus nur neue Rätsel. ‚Beischlaf. Beiwohnung, Koitus, Kohabitation, die besondere Form der Begattung beim Menschen. Der Sinn des B. ist die Befruchtung der gewöhnlich innerhalb der Eileiter (Tuben) bereitgehaltenen Eier.‘ (S. 107) ???????

Außerdem, so verkündet es der Vater, ist die Süddeutsche Zeitung reiner Sozialistenkram, dem man niemals trauen darf. Und auch nicht diesem Herrn Frahm, der sich Willy Brandt nennt und der dauernd deutsche Interessen verrät. Bei Gillitzers wird ausschließlich der Münchener Merkur gelesen und auf FJS vertraut, das versteht sich ja von selbst.
Allerdings hat auch der Merkur eine Seite, die es Peter besonders angetan hat. Gleich nach dem Sport: die Filmanzeigen. Da gibt es nackte Weiber zum Sehen (S. 135). So wie in der Neuen Revue, vor allem in der Nummer 7, die er auf abenteuerliche Weise ergattert hat: „Allein das Cover war eine Offenbarung. Eine von oben bis unten nackte Frau hielt eine Flasche in der Hand, aus der Sekt sprudelte. Daneben stand Das Neueste von den tollen Tagen: Tanzen mit Busen-Anfassen.“ (S. 171)

Ist das ein Theater, als Peters Zeitungs-Ausschnitt-Foto-Sammlung entdeckt wird. Vollends irre wird es, als dann auch noch (wenn auch mit deutlicher Verspätung) am Gymnasium der Sexualkundeunterricht eingeführt wird. „Der Schamberg ist ein behaartes Fettpolster oberhalb der Scheide ... Ich war verwirrt. Hieß das, dass das weibliche Geschlecht aus zwei Teilen bestand?“ (S. 229) Fragen über Fragen! Kann man so den Sex erfinden?

Peter muss viel lernen. Über das weibliche Geschlecht. Über die Politik. Über Revolution und Demonstrationen. Und natürlich darüber, wie man am besten zu Deep Purples ‚Child in time‘ tanzt. Und auch darüber, dass sein Vater vielleicht doch kein Nazi ist, FJS nicht für jedes Problem eine Lösung bereithält und die Muttergottes definitiv nicht in Peters Schlafzimmer erscheinen wird. München-Untermenzig ist eben doch nicht Lourdes oder Fatima. Erst Hettie wird für Klarheit sorgen. In jeder Beziehung.

Bis es jedoch soweit ist, lesen wir einen vergnüglich und liebevoll erzählten Roman über die Zumutungen der Pubertät und über die Revolte der Jugend in den 70er Jahren (U2): „Ich war glücklich und aufgeregt zugleich, weil ich wusste, dass der Tag, an dem ich den Sex erfinden sollte, endlich da war.“ (S. 294)


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© Peter Cremer / September 2020

33 P. Probst: Wie ich den Sex erfand. 2021, 978-3-95614-384-7 [ISBN]


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