
Titelbeschreibung: E-Book

32 C. McCann: Apeirogon
Colum McCann
Apeirogon
Rowohlt
Es gilt, ein literarisches Ereignis anzuzeigen. Der seit langem in den USA lebende Ire Colum McCann hat einen neuen Roman veröffentlicht. 595 Seiten lang, mit dem programmatischem Titel Apeirogon, von Volker Oldenburg meisterhaft ins Deutsche übertragen. Damit legt er einen literarischen Ziegelstein vor, der aufs Neue belegt, dass dieser Romancier seit Jahren in einer eigenen Liga schreibt, in der vielleicht noch Stewart O’Nan, Richard Ford und Christoph Ransmayr mitspielen, wenn auch mit völlig anderen Intentionen und vollkommen anderen inhaltlichen und formalen Konzepten.
Der zunächst hermetisch und künstlich anmutende Titel erweist sich als Schlüssel für das Verständnis der formalen Gestaltung des Textes. Bezeichnet er doch „eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten.“ (U 2)
McCann erzählt die Geschichte(n) zweier Männer, eines Israelis (Rami) und eines Palästinensers (Bassam), die beide im Abstand von zehn Jahren im Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in Israel und Palästina eine Tochter verlieren. Die eine (Abir) wird von einem jungen Israeli während einer Patrouillenfahrt mit einem Gummigeschoss getötet. Die andere (Smadar) wird Opfer eines Selbstmordanschlags dreier Islamisten in Jerusalem. Die Fakten sind real, d. h. „ausführlich in Film und Presse dokumentiert.“ (Vorbemerkung des Autors)
Die Arbeit des Schriftstellers besteht darin, verändernd, erfindend, komponierend mit dem realen Material umzugehen. McCann erweist sich dabei erneut als Meister eines dekonstruierenden Realismus, der in zweimal 500 Prosa-Mosaikelementen (manche davon weniger als eine Zeile kurz, manche längere Binnenerzählungen über mehrere Seiten, dann wieder einzelne Fotografien, Zeichnungen, Songtexte, Pressezitate und Dramenauszüge) eine märchenhafte Collage konstruiert, die zugleich ihre ideelle Vorlage (Die Geschichten aus tausendundeiner Nacht) dekonstruiert. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht!
Apeirogon liest sich wie ein spannender historischer Roman, dessen erzählte Realien von Anfang an bekannt sind. Spannend sind dabei das Aufdecken der Ursachen und die Erzählung der Auswirkungen der realen Ereignisse. Beeindruckend intensiv werden die Gedanken und Überlegungen der Protagonisten beschrieben, die in der Summe vielleicht die „Botschaft“ der erzählten geometrischen Figur ausmachen. Zwei Denkweisen, zwei unterschiedliche politische Systeme, zwei Herkünfte, zwei Lebensplanungen … und ihre nahezu unendlich variablen Ausprägungen ergeben in der Summe ein neues Drittes, das in Form des Romans vorliegt.
Ins Zentrum rückt dabei die 1001. Geschichte genau in der Mitte des Romans. Es gilt, sich selbst zu entdecken im Erzählten, indem wir „stundenlang gespannt, hoffnungslos, zuversichtlich, verstört, zynisch, betroffen, schweigend zuhören, während die Erinnerungen über uns hereinstürzen, unsere Synapsen tanzen und wir uns in der vordringenden Dunkelheit all die Geschichten ins Gedächtnis rufen, die noch erzählt werden müssen.“ (S. 300) - McCanns grandioser Roman ist ein schier unerschöpflicher Reigen von Geschichten, die erzählen …
- vom Tod bekannter Politiker (François Mitterand)
- von Petits Friedenbotschaft als Hochseilakrobat am Zionsberg
- von Costigins Versuch , den Jordan vom See Genezareth bis zum Salzmeer (= Totes Meer) zu befahren
- vom Leben und Sterben in den Konzentrationslagern der Nazis
- von Gefängnisstrafen und Hungerstreikenden
- von Steinschleudern und Handgranaten
- von den Schriftrollen von Qumran, ihrer Konservierung, ihrer Entdeckung
- von Hertzl, Netanjahu, Gandhi, Martin Luther King u. v. a. m.
- vom Geräusch des Regens auf Olivenblättern
- von der Möglichkeit des Überlebens in der Wüste
- von Besatzung und Unterdrückung
- von Mord und anderen Todesursachen
- von Gewaltverzicht und Widerstand
... und vielleicht insgesamt tausendundeine Geschichte ergeben und so ein Apeirogon entstehen lassen, weil ja jede der Geschichten wieder unzählige andere enthält, die somit eine gegen unendlich gehende Zahl andeuten, wer weiß.
McCann zitiert mehrfach den Sufi-Dichter Rumi und verrät damit möglicherweise die Absichten des Schriftstellers McCann?! „ Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns.“ (S. 312) „Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und ändere mich selbst.“ (S.170)
Apeirogon ist ein Buch der Hoffnung für unsere häufig so hoffnungslose Zeit. „Nur Geduld kann das Schicksal heilen.“ (S. 119) „Teilt man den Tod durch das Leben, erhält man einen Kreis.“ (S. 171) „An der Wahrheit festhalten und sich gewaltlos gegen die Ungerechtigkeit auflehnen.“ (S. 365) - Und zugleich auch ein literarische Wirklichkeit gewordenes Märchen, das längst noch nicht zu Ende erzählt ist, wenn die Leser das Buch schließen. „Wer weiß, wo das alles endet? Alles geht weiter. Das ist der Lauf der Welt … Wir haben Wörter, aber manchmal sind Wörter nicht genug.“ (S. 298) Und so ist es nicht verwunderlich, wenn der Erzähler des Apeirogon uns auffordert, endlich aufzuhören, Märchen unglaubwürdig zu finden.
Leserzahlen in einer gegen unendlich gehenden Zahl wünsche ich McCanns märchenhaftem Roman. Wer sich auf die Welt des Apeirogons einlässt, wird erfahren, was Glück bedeutet.
32 C. McCann: Apeirogon. 2021, 978-3-498-04533-3 [ISBN]
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