
Titelbeschreibung: E-Book
26 N. Mathieu: Wie später ihre Kinder
Nicolas Mathieu
Wie später ihre Kinder
Hanser Berlin
Was für ein schrecklicher Schutzumschlag: Junges Pärchen, rauchend und dabei sich küssend, Haare noch nass (SIE), beide in Shorts, Bikinioberteil oder BH (SIE), im Schwimmbad oder am See, Picknickdecke, Wiesenblumen, Baumbestand im Hintergrund … Jugendbuch-Anmutung. Nein, doch nicht, da ist ja der Aufdruck in der rechten Ecke oben: Prix Goncourt 2018. Wichtiger Preis, also wichtiges Buch. Allerdings in merkwürdiger Verpackung, mit merkwürdigem Titel. Leurs enfants après eux. Vielfach wurde die Übersetzung von Lena Müller und André Hansen gefördert (ist dem Impressum zu entnehmen).
Ich mache die „Satz-1-Probe“: „Anthony stand am Ufer und starrte geradeaus.“ Gut, gefällt mir. Also: weiterlesen. Aber warum Anthony und nicht Antoine? Spricht die Welt Englisch? Egal, muss ich nicht verstehen.
Vier Kapitel, 1992 bis 1998, vier Mal eine Zweijahresgeschichte. Von „Smells like a teen spirit“ (1) bis „I will survive“ (4). Zwischendrin „You could be mine“ (2) und „La fièvre“ (3). Sprechende Kapitelüberschriften? Von Nirvana zu Gloria Gaynor. Ist damit das Feld der Geschehnisse bestellt, von Grunge zu Disco? Also doch ein Jugendbuch?
Der Klappentext behauptet (U2): „Anthony, Hacine und ihre Freunde beim Erwachsenwerden in einer Welt, in der ihnen nichts geschenkt wird und an der sie dennoch hängen.“ - Naja, das unterschreibe ich erstmal nicht. Sie hängen nicht an ihrer Welt, die jungen Leute nicht und auch nicht ihre Eltern. Sie leben einfach darin und nehmen alles, wie es kommt. Mehr oder weniger. Dabei Drogen aller Art konsumierend: Bier mit Picon (die Alten, igitt) oder Haschisch und Koks und Wodka (die Jungen). Dass Alkohol ungeheure Verheerungen anrichtet, das habe ich schon in Zolas Totschläger gelesen und später auch bei Fallada und noch später bei Joseph Roth und noch vielen anderen. Virginie Despentes meint: „große Gesellschaftschronik in der Tradition Émile Zolas.“
Aha. Also Determiniertheit, durch râce, milieu, moment … und dafür gibt es dann 2018 den Prix Goncourt?!
Der Ort der Handlung: Heillange. Es ist nicht weit bis nach Luxemburg oder nach Deutschland oder nach Metz oder Nancy. Französische Provinz. Industrie. Abgehängt. Rasender Stillstand überall. Drogen. Schlägereien. Sex. Dauernd ist das eine hart, das andere feucht.
Träume: Von der Liebe, vom Wohlstand, vom Aufstieg, von Geborgenheit, vom Glück. Die Wirklichkeit: Sprachlosigkeit, Armut, Gewalt, Rassismus, Unglück.
Da möchte man nicht leben, in diesem Nicht-Ort Heillange, umgeben von still gelegter Schwerindustrie, rostendem Stahl, zerfallenden Plattenbauten, verzweifelter Brünftigkeit.
„Sie hatten dieselben Freizeitaktivitäten, dasselbe Gehalt, dieselbe unsichere Zukunft, und vor allem dieselbe Scham, die es ihnen unmöglich machte, über ihre wahren Probleme zu sprechen, dasselbe Leben, das wie ohne ihr Zutun ablief. Tag für Tag, in diesem Nest, das sie alle hatten verlassen wollen, ein Dasein, das dem ihrer Väter ähnelte, ein schleichender Fluch. Sie konnten nicht über den ewig gleichen Alltag sprechen, den sie wie eine Krankheit geerbt hatten. Wenn sie es zugegeben hätten, hätten sie sich ihre Unterwerfung eingestehen müssen. Aber sie waren stolz, […] auch darauf, das Alphabet rülpsen zu können.“ (S. 403) Was wäre aber, wenn der marode Osten Frankreichs, wenn Heillange die Metapher für ‚Welt der Moderne‘ wäre? Für Detroit, für Sheffield, für Duisburg für Kattowitz?
„Wie später ihre Kinder“ ist ein durch und durch naturalistischer Roman.
Mathieu zelebriert freudlose Wirklichkeit. Aufklärung. Schonungslos. Gut gemacht. Prix Goncourt 2018. Ich persönlich allerdings bevorzuge verklärenden Realismus. Ganz gleich, ob von Fontane, Haruf oder Lahiri. Geschmacksache eben.
26 N. Mathieu: Wie später ihre Kinder. 2021, 978-3-446-26412-0 [ISBN]
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