
Titelbeschreibung: E-Book

23 N. Shakespeare: Boomerang
Nicholas Shakespeare
Boomerang
Hoffmann und Campe
Wer im Marketing bei Hoffmann und Campe hat es zu verantworten, dass der Titelzusatz ‚Thriller‘ den Roman verunstaltet? – Boomerang ist kein Thriller. Boomerang ist ein Roman. Fertig. Von mir aus auch: ein spannender politischer Roman. Aber ist nicht irgendwie alles immer irgendwie politisch? Egal. Zum Teufel mit dem Titelzusatz. Wo doch schon der Romantitel selbst ausgesprochen blöde ist. Dass mit Boomerang ein australisches Weltkriegskampfflugzeug bezeichnet wurde, ist eher unnützes Wissen. Aber dass der Protagonist John Dyer als Kind ein Modellflugzeug dieses Fugzeugtyps gebaut hat, das Mitschüler dann später in einer Sandgrube versteckten … das hat dann doch eine gewisse vorausdeutend symbolhaltige Konnotation für das Romanganze. Denn in einer Sandgrube wird Dyer einen speziellen Gegenstand finden, der sein Leben nahezu auf den Kopf stellen wird.
John Dyer? Der Journalist? Da gab es doch schon einmal einen außergewöhnlichen (ebenso spannenden wie politischen) Roman Shakespeares über die lateinamerikanische Guerilla- und Terrorgruppe „Der leuchtende Pfad“, der später von John Malkovich verfilmt wurde: Der Obrist und die Tänzerin. Glänzend geschrieben, bei Rowohlt veröffentlicht, so etwas wie der literarische Durchbruch Shakespeares, und Boomerang ist eine Art Fortsetzung des Obristen, so wie dieser aufs Engste mit Shakespeares Erstling Die Vision der Elena Silves in Verbindung steht. – Jetzt also wieder Dyer als Protagonist. Wieder Politik. Wieder Intrige. Und düstere Machenschaften in unklaren Verhältnissen. Menschen verschwinden spurlos.
Dyer lebt mit seinem Sohn Leandro in Oxford. Seine erste Frau Nissa hat ihn wegen eines gut verdienenden Anwalts verlassen. Die zweite Frau (Astrud) ist zusammen mit der neugeborenen Tochter nach der Geburt verstorben. Er hat nach diesen Schicksalsschlägen den Journalistenberuf frustriert an den Nagel gehängt und den geliebten Kontinent Südamerika verlassen. In Oxford vergräbt er sich in der Bibliothek. Er möchte die Recherchen für ein neues Sachbuch über die Kolonialisierung Lateinamerikas abschließen. Doch die Schatten der Vergangenheit verfolgen Dyer. Erinnerungen an die eigene Schulzeit in Oxford, der Besuch der teuren Privatschule Phoenix (die Schule, die nun auch Leandro besucht), das Wiedersehen mit ehemaligen Schul- und Klassenkameraden, viele von denen inzwischen skrupellose Karrieristen und obskure Geschäftemacher, in allerlei dunkle politische Machenschaften verstrickt, andere zunächst gänzlich verschollen, dann aber wie Phoenix aus der Asche auftauchend, gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen, ständige Geldknappheit – Dyers Leben ist auch nach der Rückkehr nach England nicht in die ruhigen Fahrwasser gemündet, die er sich erhofft hatte. Er lebt in bescheidenen Verhältnissen, ist ein fürsorglicher Vater und ein an aktueller Politik nur mäßig interessierter Zeitgenosse.
Doch dann trifft er zufällig den iranischen Kernforscher Rustum Marvar, dessen Sohn Samir ebenfalls die Phoenix-Schule besucht und der zusammen mit Leandro in der Fußball-Schulmannschaft spielt. Ist das Treffen der beiden Väter tatsächlich ein Zufall oder doch von langer Hand geplant? Welches Geheimnis enthalten die Aufzeichnungen Marvars, die er Dyer zukommen lässt? Was ist das für eine Veränderung, die Dyer in seinem Alltag feststellt? Wird er tatsächlich verfolgt? Ist er ins Visier verschiedener Geheimdienste geraten? Dyer glaubt plötzlich, niemandem mehr trauen zu können. Wie einst in Brasilien, als der Colonel Rejas dem Journalisten Dyer die schier unglaubliche Geschichte von der Verfolgung des Guerillachefs Ezequiel erzählte (Der Obrist und die Tänzerin).
Geheimdienste, Staatsinteressen, Spionage, Kernphysik, das sind die Ingredienzien, die Dyers eher ruhiges Leben grundlegend zu verändern scheinen. Was bedeuten Marvars Aufzeichnungen, welche Botschaft enthalten sie? Wohin ist der Physiker verschwunden? Warum ist nichts mehr so, wie es war, ehe Dyer in den Besitz der merkwürdigen Papiere gelangte? Die Schlinge um dem den Hals des Ex-Journalisten zieht sich langsam zu …
Ja. Boomerang ist ein spannender Roman, der viele Fragen aufwirft, kaum eine dieser Fragen beantwortet und den man doch nach Ende der Lektüre mit dem Gefühl zuklappt, so einiges über das Leben gelernt zu haben. Und auch, dass die Geschichten hinter den Buchdeckeln nicht enden, sondern weitergehen.
Gewarnt seien empfindsame Leser*innen vor dem 13. Kapitel (S. 126 – S. 130). Nur wenige Seiten ist das Kapitel kurz, doch die geschilderten Grausamkeiten sind schockierend. An keiner anderen Stelle beschreibt Shakespeare das Unvorstellbare so präzise. Will ich so genau über bestialische Folterpraktiken Bescheid wissen, frage ich mich. Ganz gleich, wie die Antwort ausfällt, man liest anders weiter, wenn man Kapitel 13 geschafft hat.
Trotz der irreführenden Informationen auf dem Schutzumschlag mit der mehr als gewagten Genrezuordnung, die offensichtlich darauf abzielt, größere Käuferschichten anzusprechen: Shakespeare erzählt eine spannende Geschichte, routiniert übersetzt von Anette Grube. Dieser englische Autor ist eine Bank. Seine Bücher sind in höchstem Maße lesenswert. Immer. Jetzt also „The Sandpit“, deutsch: Boomerang. Wieder eine filmreife Story. Vielleicht eine Drehbuchvorlage für den ewigen Eastwood?!
23 N. Shakespeare: Boomerang. 2021, Seitenzahl: 100, 978-3-455-00881-4 [ISBN]
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